Videmus nunc per
speculum in profundium - Wir sehen jetzt durch
einen Spiegel in die Tiefe.
Die junge Melissa Bornhoff unterrichtet seit kurzem an der Frankenberger
Internatsschule Sankt Georgenberg als Lehrerin. Sie fühlt sich in
der neuen Umgebung innerhalb der Mauern eines ehemaligen Zisterzienserklosters
recht wohl, da sie mit ihren Kollegen gut auskommt und diese sie wohlwollend in
die Schulgemeinschaft aufgenommen haben. Das ist besonders wichtig für die
Hauptakteurin des Romans, da deren Eltern vor zwei Jahren bei einem Unfall ums
Leben gekommen sind und sie ansonsten keine weiteren Verwandten mehr
besitzt. Allerdings bringen der in
Melissas Augen ungehobelte Kollege Severin Gregorius, von allen wegen seinem
Pferdeschwanz und seinem dunklen Äußeren nur „der Indianer“ genannt, sowie eine
alte schwarz-weiß Zeichnung in einem Geschichtsbuch ihr bisher so
wohlgeordnetes Leben in beträchtliche Unruhe. Die historische Abbildung zeigt
eine junge Frau vor dem Inquisitionstribunal, welche Melissa erschreckend
ähnlich sieht. Als sich dann noch herausstellt, dass auch die Person des
Indianers auf dem Bild dargestellt ist, kann niemand mehr an einen Zufall
glauben. Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, führt der Weg Melissa
gemeinsam mit ihrem ungeliebten Kollegen Gregorius an die Universität des nahe
gelegenen Marburg. Dort erfahren sie aufschlussreiche Details über das
sonderbare Bild, welche ihnen bei ihrer Suche nach Antworten weiterhelfen. Was
die beiden jedoch noch nicht ahnen ist, dass die Vergangenheit eine
Eigendynamik entwickelt, welche Melissa mittels eines alten Silberspiegels in
die Zeit von 1478 zurückversetzt.
In der Gestalt ihrer Ahnin
Melissa Merenberg erlebt die junge Frau das Leben von damals, welches sich im
ehemaligen Kloster Sankt Georgenberg vor mehr als 500 Jahren abgespielt hat.
Der Leser wird in eine Zeit zurückgeführt, in der die Naturwissenschaften nicht
alleine von Logik bestimmt, sondern noch vom Glauben an die Macht der Magie
beseelt waren. Vom Wissen an die verborgenen Kräfte der Natur ist auch die
achtzehnjährige Melissa beseelt, die gemeinsam mit ihrer Schwester Bea bei
ihrem Vormund Aemilius Wyghartis, dem weisen Schulleiter von Sankt Georgenberg,
nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern ein neues Zuhause gefunden hat. Die vom
fortschrittlich denkenden Landgraf Philipp I. ins Leben gerufene Schule, widmet
sich jedoch nicht alleine – wie vom Landesherrn beabsichtigt – der
Wissensvermittlung von Sprachen sowie naturwissenschaftlichen und
philosophischen Lehren, sondern versucht mit Hilfe des Geheimbundes der Sapienti das Geheimnis der Magie für die
Nachwelt zu bewahren. Nach ihrer Aufnahme in den Orden droht Melissas
beschauliches Leben gehörig durcheinander zu geraten, da sie sich wider ihren
Willen in den falschen Mann verliebt und zwar in Magister Gregorius Refus,
seines Zeichens Astronomielehrer und astrologischer Berater des Landgrafen.
Gezeichnet von dieser unglücklich verlaufenden Liebe geht Melissa weiterhin
ihrer Arbeit in der ehemaligen Klosterapotheke nach, wo sie von der guten Guda
in den Geheimnissen der Kräuter- und Edelsteinkunde sowie der Magie unterwiesen
wird. Stets der Unterstützung des ihr in Liebe und Freundschaft zugetanen
jungen Lateinlehrers der Schule, Bruder Stephanus, bewusst, versucht Melissa
die geballt auftretenden Probleme und Gefühlsschwankungen, welche sie neuerdings
quälen, zu meistern. Verbissen kämpft sich die junge Frau
verbissen voran, in dem vergeblichen Versuch im Strudel der gefahrvollen
Ereignisse nicht unterzugehen. Dabei stellt der große Brand von Frankenberg,
bei dem auch Melissas Elternhaus den Flammen zum Opfer fällt, noch das
geringere Übel dar. Unheil in Form von mehreren Todesfällen kommt über die
Schule und das Böse scheint einfach kein
Ende nehmen zu wollen. Auch Gregorius Refus bleibt davon nicht verschont.
Gemeinsam in die mysteriösen Geschehnisse ringsum verstrickt, nimmt das
Schicksal unerbittlich seinen Lauf.
Noch völlig gefangen genommen
von all dem, was sie in der Vergangenheit erlebt hat, kehrt Melissa am Ende der
Tragödie in die Gegenwart zurück. Nunmehr wissend, was damals vorgefallen
ist, gelingt es ihr mit Hilfe des
Indianers allmählich Licht in das Dunkel zu bringen und sie beide erfahren von
dem Fluch, der auf ihnen lastet. Zu ihrem großen Entsetzen müssen die beiden
feststellen, das die Geschichte noch immer nicht beendet ist, sondern sich in
gewissen Punkten sogar zu wiederholen scheint. Ihre Aufgabe ist es nun, den
Bannspruch, welcher vor langer Zeit ausgesprochen worden ist, mit einer die
Jahrhunderte umspannenden Liebe zu brechen. Allerdings stellen sich dem
Indianer und Melissa dabei ein paar unerwartete Hindernisse in den Weg, die es
fraglich machen, ob ihnen dies letzten Endes tatsächlich gelingen wird.
Mit thematisch passenden Illustrationen von den heute noch existierenden,
historischen Gebäuden und Schauplätzen sowie von verschiedenen
mittelalterlichen Gebrauchsgegenständen erfährt das literarisch 584
buchdruckseitenstarke Werk eine wundervolle Abrundung durch die Zeichnungen der
Graphikdesignerin Stephanie Schuler-Gundelach, welche dem Geschriebenen somit
eine ganz eigene Besonderheit und Anschaulichkeit verleihen.
Leseprobe
Das warme Wasser umspielte
ihre Gliedmaßen und Lavendelduft stieg ihr in die Nase. Melissa war nach dem
Besuch bei Malachias noch schnell in die Apotheke gelaufen und hatte das
Töpfchen mit Indianernessel gegen eines mit Lavendelblüten eingetauscht. Nun
saß sie in einem Holzzuber voller Badewasser, doch das erhoffte Wohlgefühl
wollte sich nicht einstellen. Sie fragte sich, was die Worte von Malachias
bedeuten sollten. Wollte er sie vor etwas warnen? Und warum hatte er sie über
ihren Vater ausgefragt? Aus rein beruflichem Interesse oder steckte da mehr
dahinter? Melissa seufzte und schaute einigen, auf der Wasseroberfläche
treibenden, lilafarbenen Blüten zu, die sich aus den im Wasser liegenden und
mit Lavendel gefüllten Leinensäckchen gelöst hatten. Heute war einfach nicht
ihr Tag. Der Zwist mit Magister Refus steckte ihr auch noch unangenehm in den
Knochen. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Meinte er etwa, nur weil er am
Hofe von Landgraf Philipp nach Belieben ein und aus gehen konnte, sei er etwas
Besonderes? Oder war er etwa der Ansicht, das Studium der Sterne mache ihn zu
etwas Außergewöhnlichem und er könne sich deshalb solch eine ungehobelte Art
erlauben? Je mehr Melissa darüber nachdachte, umso mehr geriet sie in Rage.
Seiner Meinung nach hatte sie kein Recht hier zu sein? Wie wenig würde es ihm
erst gefallen, wenn sie ebenfalls Mitglied im Geheimbund der Sapienti war. Hatte Malachias ihr
deshalb geraten, mit ihrem Vertrauen vorsichtig umzugehen? Das wäre nicht nötig
gewesen. Sie verabscheute das gemeine Wesen von Magister Refus und würde lieber
freiwillig im Schandkittel herumlaufen, als sich ihm jemals anzuvertrauen. Wenn
er jetzt hier wäre, würde sie ihm gehörig die Meinung sagen. Melissa fühlte wie
ihre Energie langsam wieder zurückkehrte. Oh ja, sie brauchte sich vor
niemandem zu verstecken und konnte tun und lassen, was sie wollte, ohne dass
sich ein gewisser Gregorius Refus als Moralapostel aufzuspielen hatte. Mit
einem Ruck stand sie auf und stieg aus der Wanne. Das Wasser schwappte über.
Melissa rubbelte sich energisch mit einem bereitliegenden Leinentuch trocken.
Dann schlüpfte sie in ihre Kleider. Das Haar ließ sie zum Zopf gebunden. Sie
verließ das Badehaus und strebte auf das Schulgebäude zu, als sie im
Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm. Was war heute Abend bloß los? Ständig
schlichen Leute im Dunkeln umher. Die Gestalt kam direkt auf sie zu. Melissa
überlegte kurz, ob sie weglaufen sollte, verwarf diesen Gedanken dann aber
wieder, da ihr die Silhouette der dunklen Person bekannt vorkam. „Melissa Merenberg, Ihr
müsst Eure vorwitzige Nase wohl auch des Nachts noch in die Gegend strecken!“
Es war Magister Refus, der da in der Dunkelheit auf sie zugeschritten kam. Kampfeslustig streckte
Melissa das Kinn vor. „Dasselbe könnte ich über Euch sagen. Weshalb lauft Ihr
bei Anbruch der Nacht noch hier draußen herum? Doch bestimmt nicht, um die
Sterne zu beobachten.“ Er schaute sie ärgerlich
an, ging aber zu ihrer Überraschung nicht auf ihren provozierenden Ton ein.
„Habt Ihr hier irgendjemanden herumschleichen sehen?“ „Außer Euch meint Ihr?“
Melissa tat, als müsse sie überlegen. „Nein, Ihr seid der einzige, der mir
bisher über den Weg gelaufen ist.“ Magister Refus blickte
unruhig in der sie umgebenden Dunkelheit umher. „Ist Euch sonst irgendetwas
Verdächtiges aufgefallen?“ Melissa fiel die
schattenhafte Gestalt im Kräutergarten wieder ein; doch sie sah nicht ein,
warum sie ihm davon erzählen sollte, da er sie ja anscheinend für minderwertig
und unnütz hielt. „Ich würde Euch ja gerne bei Eurer Suche nach Was-auch-immer
dienlich sein, aber wie Ihr ja selbst am besten wissen müsstet, bin ich leider
nur ein dummes Frauenzimmer und aus diesem Grunde nicht im Geringsten für solch
anspruchsvolle Hilfeleistungen geeignet.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und
ließ ihn sprachlos unter dem schwarzen Nachthimmel stehen.